Die Sonne scheint, die Augen tränen vom Pollenstaub, in der Nase der Duft von Bärlauch. Der Frühling ist da! Dazu heute die passenden warmen Klänge aus einem nicht immer so warmen Land (auch metaphorisch zu verstehen!). Nach dem Zweiten Weltkrieg besetzte die Sowjetunion Estland. In dieser Zeit haben estnische Musiker*innen unsterbliche Werke erschaffen, die jahrtausendealte Gesangstraditionen verarbeiten und in einem Zeitalter politischer Verfolgung und Unterdrückung Trost auf der Tanzfläche suchten.
Im Schatten der Zeit
Während die estnische Liederkultur bis in vorchristliche Zeiten nachgewiesen werden kann, war es vor allem im 19. Jahrhundert, dass diese Tradition auch zu einer Projektionsfläche für Fragen der Identität und Nationalität wurde. In Estland, damals ein Teil des Russischen Zarenreichs, entstand zu dieser Zeit ein neues nationales Bewusstsein. In dieser Phase des „grossen nationalen Erwachens“ wurde auch das Üldlaulupidu gegründet, ein Liederfest, das auch heute noch alle fünf Jahre in der Hauptstadt Tallinn Zehntausende Musikbegeisterte anzieht. Die UNESCO zählt das Festival längst zu ihrer Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit. Zur Zeit der Sowjetbesatzung wurde das Üldlaulupidu für Propagandazwecke missbraucht und nationale Texte wurden verbannt. Trotzdem blieb das estnische Volkslied in der Musik dieser Zeit präsent, zum Beispiel in den Stücken der Band Collage.
Ein Lied bleibt
Estnische Musik genoss während der 60er- und 70er-Jahre eine Ausstrahlung, die weit über den Eisernen Vorhang hinausreichte. 1966 wählte die renommierte amerikanische Jazzzeitschrift Down Beat Marju Kuut zur besten Künstlerin der Sowjetunion. Marju Kuut nahm in den 60er- und 70er-Jahren über 500 Songs auf, hauptsächlich für das sowjetische Staatslabel Melodija. Nachdem Marju Kuut aber 1980 ein neues Leben in Schweden begann, wurden viele ihrer Aufnahmen zerstört und nur noch selten im Radio gespielt. Als Produzentin für einen estnischen Radiosender in Schweden, als Sängerin auf Kreuzfahrtschiffen und als DJ in Nachtclubs blieb Marju Kuut jedoch auch im Exil ihrer Passion treu. 2022 verstarb sie im Alter von 76 Jahren.
Singende Revolution
Es gibt wenige historische Beispiele, die ein so überzeugendes Zeugnis für die Kraft der Musik ablegen wie die Singende Revolution in Estland. Während der Zeit der politischen und kulturellen Öffnung in der Sowjetunion unter Gorbatschow wurden auch nationale Bewegungen in Estland wieder öffentlich aktiv. Ab 1988 kam es in Estland immer wieder zu Massengesängen mit nationalistischen Texten, die die Unabhängigkeit des Landes besangen. Estland solidarisierte sich bei der Aktion „Baltischer Weg“ mit seinen Nachbarländern Lettland und Litauen, die ebenfalls ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion forderten. Zwei Millionen Menschen bildeten eine Menschenkette, die durch alle drei Länder führte. 1991 wurde Estland offiziell unabhängig.
Playlist
Tiiu Varik - Näed Vaid Oma Silmi
Els Himma - Kesköö
Valter Ojakäär - Rasked Veosed
Uno Naissoo - Marss-Eksprompt
Tarmo - Välgud Peeglis (feat. Vanemõde) - Short Version
Collage - Mets Neidude Vahel
Laine - Nüüd on Mul Muusika
Raivo Parind - Hei, Päike!
Collage - Memme Vaev
Collage - Memme Vaevk
Collage - Suur Tamm
Marju Kuut - Üksi, Kuid Vabana
Marju Kuut - Maskeraad
Els Himma - Veerev Päev
Velly Joonas - Käes On Aeg
Velly Joonas - Stopp, Seisku Aeg!
Marju Kuut - Flamingod
Eesti TV - Kesköösamba - Instrumental
Eesti Raadio Estraadiorkester - Mälestuste Teel - Instrumental
Eesti TV - Meie Aeg - Instrumental
Jaan Kumani Instrumentaalansambel - Mind Veel Ei Ole - Instrumental Short Version
Magnetic Band - Liiklus
Ülle Ernits - Ma Tahan Olla Siin
Eesti TV - Mälestus - Short Version
Pirita - On See Hea - Instrumental
Marju Kuut - Lapsepõlve Muinasmaa