Moderne Klangformen der elektronischen Musik erzählen von armenischen Traditionen und Erinnerungen. Digital modellierte Instrumente verweben Altes und Neues, Geschichte und Mythologie, Identität und Politik miteinander.
Das Album Remnants von Lara Sarkissan bettet Elemente ihrer armenischen Identität in Ambient- und Clubmusik ein. Durch die Hybridisierung von nicht-westlicher Musik mit der zeitgenössischen westlichen Kultur, erörtert sie gleichsam Fragen zu Geschlecht, Religion und sozialer Gerechtigkeit. Das vor allem durch einen Aspekt: Das Sampling.
Das Debütalbum Remnants öffnet mit Heaven, or Paradise; and Hell. Ein Song, der aus dem armenischen Sharakan Aravot Luso inspiriert ist. Dabei handelt es sich um einen einstimmigen Gesang, der in der armenisch-katholischen sowie armenisch-apostolischen Kirche verwendet wird. Die Harmonien und Melodien des Originalstücks werden auf dem Song neuinterpretiert in eine verträumte elektronische Oper, die digitale Klänge der Kanun verwendet. Die Kanun ist eine Kastenzither, die bereits seit dem 10. Jahrhundert vor allem in der arabischen und türkischen Musik Verwendung findet.
Heaven, or Paradise; and Hell wurde am 15. November 2024 veröffentlicht.
Im Mittelteil des Albums kommt die Duduk zum Einsatz. Die Duduk ist das wohl bekannteste Instrument Armeniens. Das Holzblasinstrument gilt nämlich als Nationalinstrument und ist auch unter dem Namen armenische Flöte bekannt. Die vertrauten, schilfartigen Töne des Instruments tauchen in Unraveling (Interlude) auf und weben sich durch die beiden darauffolgenden Tracks. Das Instrument wird dabei beinahe bis zur Unkenntlichkeit mutiert, so dass es sich in eine stimmähnliche Klage verwandelt, die sich zwischen die holzigen Perkussionsinstrumente schleicht, und es zu einem sanften geisterhaften Stöhnen wird.
Die Vielzahl von Referenzen und Elementen aus der armenischen Kultur finden ihren Höhepunkt in Miracle, einem Song der Sequenzen aus der postsowjetischen armenischen Filmkomödie Կիսանդրի (Kisandri) enthält. In dem Film geht es darum, wie zwei Freunde versehentlich die Büste von Stalin zertrümmern. Durch die Breaks und den starken Bass wird die Stimmung des Albums aufgelockert. Gleichzeitig spricht der Song Our Dead Can’t Rest (Old Jugha Flute Dance) mithilfe von Davul- und Dhol-Trommelrhythmen und Shvi-Holzbläserklängen das Versetzen von armenischen Gräbern an. Das Gebiet Old Jugha, heute Julfa, beherbergte ursprünglich über 10'000 kunstvoll geschnitzte Grabsteine, Khachkars genannt. Seit Ende der 1990er Jahre begann die systematische Zerstörung der Monumente, bis 2005 der ganze Friedhof zerstört wurde.
far from the eye, far from the Heart wurde am 15. November 2024 veröffentlicht.
Auch der soziokulturelle Kontext der armenischen Diaspora spielt in Lara Sarkissans Musik eine entscheidende Rolle. Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts leben viele Armenier*innen in Diasporagemeinden in den USA, was unter anderem zurückzuführen ist auf den Völkermord an Armenien während des Ersten Weltkriegs.
In der Auswahl der traditionellen Instrumente, spiegelt sich diese Diaspora wider. Die geografische Entfernung zu der armenischen Musikkultur erschwert den direkten Zugang zu den Instrumenten, der durch das Sampling überwunden werden kann. In all ihren bisherigen Tracks sampelt sie Fragmente der armenischen Kultur, seien es Gedichte, Youtube-Clips oder Teile aus Dokumentarfilmen. Während die Intention dahinter einerseits das Erforschen der eigenen Identität umfasst, geht es auch um eine politische Motivation: Mit ihrem Label Club Chai stellt Lara Sarkissian als Gründerin diasporische Narrative, Frauen und Trans*-Künstler*innen in den Mittelpunkt.
Die Absicht, Musik als Plattform für Standpunkte von Minderheiten zu nutzen, wird offentichtlich, wenn das Sampling als Strategie verwendet wird, sich geschlechtsspezifischen Sound anzueignen. Beispielsweise wenn Instrumente, die in der Regel nur von männlichen Personen gespielt werden, von Lara Sarkissian als weibliche Musikerin zurück angeeignet werden.
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Die besten Tracks findest du in dieser Playlist:
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Tracklist:
Lara Sarkissian - Remnants
The Crane has Lost Its Way Across The Heaven
Heaven, or Paradise; and Hell (ft. Adrien Soleiman)
Unraveling
Zephyr
far from the eye, far from the Heart
Miracle
Our Dead Can’t Rest (Old Jugha Flute Dance)
What Solace Can I Give (ft. Adrien Soleiman)
Nothing matters more than touching you although i haven’t touched you yet
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